Rundbrief Verzeichnis

HP Lyrae ist wahrscheinlich ein RV-Tauri-Stern

Béla Hassforther

Im BAV Rundbrief 2/2002 finden sich zwei Beiträge zu HP Lyrae, einem vergleichsweise bekannten, wenn auch - wie üblich - "vernachlässigten" Veränderlichen. Beispielhaft läßt sich an diesem Stern zeigen, wie wenig selbst über jahrzehntelang bekannte Veränderliche bekannt ist und wie sinnvoll es ist, nicht nur auf die Suche nach neuen Veränderlichen zu gehen, sondern auch alte Bekannte immer wieder vorzunehmen und alte Klassifikationen oder Untersuchungen zu hinterfragen - und sei es mit visuellen Beobachtungen.

HP Lyr ist - wie man auf Farbaufnahmen sieht - sicherlich kein roter Halbregelmäßiger. Und doch ist er trotz seiner Lichtschwäche identisch mit der Infrarot-Quelle IRAS 19199+3950.

Ralf Meyer ("HP Lyr: Des Rätsels Lösung", BAVR 2/2000,33ff) hat sich dieses Sterns mit eigenen Beobachtungen und Recherchen in der Lichtenknecker-Database angenommen und auf das seltsame B-R-Diagramm des Sterns hingewiesen. Würde es sich um einen Bedeckungsveränderlichen handeln, müßte man zum Schluß kommen, dass irgendwann im Zeitraum von 1960 bis 1980 eine erhebliche Periodenänderung stattgefunden hat, und zwar in einem Umfang, der mit normalen Prozessen, die innerhalb eines Doppelsterns stattfinden, kaum noch zu erklären ist.

Uli Bastian hat im zweiten Beitrag ("HP Lyrae - Tja, wat is nu dat???", BAVR 2/2000, 37) nach Erklärungsmöglichkeiten für eine Periodenänderung im Bereich von ca 1 Prozent gesucht, aber die vorgeschlagene Lösung (ein dritter massiver Körper, der durch das System gerast ist) hat den unangenehmen Beigeschmack, sehr unwahrscheinlich zu sein. Am Vorabend des diesjährigen Hartha-Treffens (Anfang Mai 2002) wurde der Fall kurz in einer kleinen Runde diskutiert, wobei auch die Möglichkeit in Erwägung gezogen wurde, dass die Klassifikation des Sterns als Bedeckungsveränderlicher inkorrekt sein könnte. Diese Zweifel an der Klassifikation bestehen schon seit der ersten lichtelektrischen Untersuchung des Sterns (wobei ich hier bewußt "des Sterns" und nicht "des Systems" sage...).

Zu meinen bevorzugten Beobachtungsobjekten gehören die RV-Tauri-Sterne und die sehr langperiodischen Bedeckungssterne. Bei beiden Objektklassen ist mir HP Lyrae begegnet und so wurde ich früh (Ende der achtziger Jahre) auf diesen Stern aufmerksam, habe Material gesammelt, und von Beginn an war die exakte Klassifikation des Sterns ein Thema.

Im BAV Rundbrief 1/1983,1-6 hat Mario Fernandes seine lichtelektrischen Beobachtungen an drei Beta-Lyrae-Sternen vorgestellt, darunter HP Lyrae. Bedauerlicherweise sind die älteren Rundbrief-Beiträge (trotz eines aussagekräftigen astracts wie hier) nicht über SIMBAD zu finden, weswegen dieser wichtige Beitrag zum Stern für die Fachwelt nicht existiert und nur in den Hinterköpfen von BAV-Mitgliedern präsent ist. Hier zunächst ein Scan der Lichtkurve aus dem genannten Beitrag von Mario Fernandes.

Lichtkurve von HP Lyr (M.Fernandes)

Mario Fernandes, lichtelektrische Lichtkurve von HP Lyrae (BAVR 1/1983, S.4)

Die Lichtkurve basiert auf 38 Messungen in B und V des Zeitraums 12.8. bis 29.12.1982. Von der Helligkeit her war HP Lyrae für die Messapparatur schon fast zu schwach, aber Fernandes weist darauf hin, dass die doch vergleichsweise große Streuung nicht nur instrumentelle, sondern auch tatsächliche Variationen des Sterns zur Ursache hat: von einem Bedeckungsveränderlichen wäre eine etwas sauberere Kurve zu erwarten.

Bei der Diskussion seiner Ergebnisse kommt Fernandes zum (in meinen Augen überzeugenden) Schluß, dass die Lichtkurve "eigentlich wenig der eines Beta-Lyrae Sternes ähnlich" sieht. "Sie ähnelt eher der eines pulsierenden Veränderlichen".

Wo und wann wurde HP Lyrae als Bedeckungsveränderlicher klassifiziert? HP Lyrae hat zusammen mit EP Lyrae die "Ehre", in der allerersten Nummer des IBVS (IBVS No.1, 4.10.1961) vorgestellt zu werden. Von W.Wenzel aus Sonneberg wurde in dieser IBVS-Nummer eine Neuklassifikation der beiden vorher als RV-Tau- bzw halbregelmäßig betrachteten Sterne vorgenommen. Grundlage der Neuklassifikation waren Objektivprismen-Platten des Sonneberger Schmidt-Teleskopes (50/70/172cm). EP Lyrae hat sich nachträglich aber doch als sicherer RV-Tauri-Stern herausgestellt (und wird auch im Rahmen des RV-Tauri-Projekts in der BAV fleissig beobachtet).

Die Vorarbeit für dieses IBVS No.1 stellt eine Bearbeitung von HP Lyr durch Wolfgang Wenzel in den "Mitteilungen über Veränderliche Sterne" Nr. 499/500 vom 22.9.1960 dar. Zum einen wird darin über die Spektralklassifikation anhand eines Objektivprismen-Spektrums berichtet, zum anderen über das Ergebnis von Schätzungen auf 120 Sonneberger Himmelsüberwachungsplatten aus den Jahren 1950-1958. Diese 120 Schätzungen ermöglichten die Bestimmung von 16 Minima (wobei man bei der geringen Anzahl von Schätzungen, die ja letztlich die ganze Phase abdecken, keine sonderlich genaue Minimumsbestimmung erwarten kann) und einer reduzierten Lichtkurve. Die Durchsicht von 750 weiteren SHÜ-Platten auf der Suche nach Schwächungen (also keine Schätzungen) ergab 32 weitere Schwächungen, die die Elemente:
Min = 2426910 + 140.75d x E
bestätigten. Hier die Lichtkurve aus den 120 Schätzungen, die wie die lichtelektrisch bestimmte Lichtkurve eher einen Pulsationstyp (RV-Tau-Stern oder SRd-Stern) nahelegt:

Lichtkurve von HP Lyr (W.Wenzel)

Wolfgang Wenzel: Lichtkurve von HP Lyr anhand von 120 Schätzungen auf Platten der SHÜ.

Aufgrund des vorliegenden Material könnte man schon hier den Schluß ziehen, dass auch die damals vorgenommene Klassifikation von HP Lyr als Bedeckungsstern falsch war und es sich um einen Halbregelmäßigen Stern handelt. Die Form der lichtelektrisch ermittelten Lichtkurve in Kombination mit dem Farbindex laut dem Tycho-2-Katalog (+0,66) und dem Infrarot-Exzess (typisch für RV-Tau-Sterne) deutet darauf hin, dass es sich sogar um einen RV-Tauri-Stern handeln könnte (ein SRd-Stern würde auch noch in Frage kommen). Und Periodenänderungen sind für diese Sterne nichts besonderes.

Dies war der Stand wenige Wochen nach dem Treffen in Hartha. Der Stern wurde im BAV-Forum diskutiert, an verschiedenen Stellen wurden Spektraluntersuchungen eingeleitet, mehrere Beobachter - darunter Herr Born - setzten den Stern auf ihr Beobachtungsprogramm. Ganz unerwartet kam dann die Bestätigung, dass die BAV auf dem richtigen Weg war.

Ein aktueller Aufsatz von D. Graczyk et al (astro-ph/0210448v1) hat nämlich die oben geäusserten Vermutungen glänzend bestätigt. Anhand von UBVRI-Messungen und spektroskopischen Untersuchungen finden sie kontinuierliche Änderungen des Spektraltyps von A2-3 im Maximum bis zu A7-F2 im Minimum. Als Leuchtkraftklasse wurde Iab ermittelt. Eine Periodensuche in ihrem Material ergibt eine Periode von 138,7 Tagen, wobei die Periode zwischen 1960 und 1980 um rund ein Prozent abgenommen hat. Weitere Hinweise darauf, dass es sich bei HP Lyrae wahrscheinlich um ein AGB-Objekt handelt, finden die Autoren darin, dass es sich um eine IRAS-Quelle handelt, in der hohen galaktischen Breite von +11,7 Grad steht, sowie in der hohen Raumgeschwindigkeit. Der frühe Spektraltyp von HP Lyr ist weniger überraschend als die Autoren meinen: Es ist klar, dass sich die RV-Tauri-Sterne im HRD nach links hin zu höheren Temperaturen bewegen, es sind also auch Exemplare oder Grenzfälle zu erwarten, deren Spektraltyp noch früher als der von HP Lyr ist. Wo die Klasse der RV-Tauri-Sterne endet und wo eine neue Klasse beginnt - das ist natürlich noch unklar.

Für Januar sind die ersten Saisonergebnisse von Herrn Born versprochen, daneben habe ich eine erste Serie von Sonneberger SHÜ-Platten geschätzt, und vielleicht liegen dann noch weitere Beobachtungen oder Spektren vor. Über HP Lyrae wird also wieder zu lesen sein.

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